Sie ist das Gesicht des VfL Oldenburg: Seit 2005 ist Julia Renner Teil der Oldenburger Bundesliga-Mannschaft, hat drei Pokalsiege mit dem Verein gefeiert, den Challenge Cup und den Supercup gewonnen, spielt so viele Jahre am Stück im Handball-Oberhaus wie nur vier Bundesliga-Vereine. Es ist eine einzigartige Geschichte, die nun schon 17 Jahre anhält. Doch diese Saison beim VfL Oldenburg wird ihre Letzte sein. Nach der Spielzeit 2021/22 beendet die 34-Jährige ihre beeindruckende Handball-Karriere.

00.00 Minuten: Sonntag, 20. Mai 2018. Anpfiff zum Finale um den DHB-Pokal in der Stuttgarter Porsche Arena. Julia Renner steht zwischen den Torpfosten, fokussiert sich auf die jetzt startenden 60 Minuten. Nach dem Halbfinalsieg gegen die Bad Wildungen Vipers sind sie und der VfL Oldenburg gegen die SG BBM Bietigheim der große Außenseiter, keiner hat das Team aus der Huntestadt auf der Rechnung. Doch Pokalspiele haben ihre eigenen Gesetze – so auch an diesem Tag. Für Julia Renner wird dieses Finale zu einem ganz besonderen Spiel ihrer Karriere werden. Doch das ahnt zu diesem Zeitpunkt niemand.

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Den Gedanken trug Julia Renner schon seit einiger Zeit mit sich herum, nur den Zeitpunkt, wann sie ihre Karriere beenden wird, den kannte sie lange nicht. Bis jetzt. Im Sommer 2022 hängt die Oldenburger Torhüterin ihre Hallenschuhe an den Nagel. „Mir ist die Entscheidung richtig schwergefallen, aber irgendwann ist es eben an der Zeit“, erklärt sie: „Es war ganz lange mein Lebensmittelpunkt, alles wird um den Handball herumgeplant.“ Mehr Freiheiten bei der Urlaubsplanung, den Spagat zwischen Beruf und Handball nicht mehr meistern müssen – das ist das, worauf sich Julia Renner in Zukunft freut. „Meine Familie und Freunde haben so lange Zeit Rücksicht darauf genommen und zurückgesteckt“, sagte die 34-Jährige: „Jetzt möchte ich Zeit für sie haben.“

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19.55 Minuten: Es läuft in diesem Endspiel nicht nach Plan. Die offensive Deckung offenbart zu viele Lücken beim VfL. Auch jetzt wird Karolina Kudlacz-Gloc wieder auf der linken Seite freigespielt. Julia Renner kommt zwei Schritte aus dem Tor, hat bei diesem Wurf aber keine Chance: 6:10, Auszeit Oldenburg. Droht eine ähnliche deutliche Niederlage wie in den beiden Ligaspielen?

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Niederlagen – um die würde Julia Renner nur zu gerne einen großen Bogen machen. „Ich bin ein ehrgeiziger Typ und verliere auch außerhalb des Handballs nicht gerne“, sagt sie. Um möglichst viele Niederlagen auf der Platte zu vermeiden, hat die 34-Jährige ihr ganzen Handballerleben hart gearbeitet – beim VfL Oldenburg erst unter Cheftrainer Leszek Krowicki, dann unter Niels Bötel. Die meiste Zeit davon hat sie aber wohl mit ihren Torwarttrainern Alexandr „Sascha“ Vorontsov und Christoph Dannigkeit verbracht. „Sascha hat mich sehr geprägt, da wir eine so lange Zeit zusammengearbeitet haben“, sagt Renner. „Ich war noch nicht einmal 18 Jahre alt und gehörte zu den „Kleinen“, die zu den anderen aufschauen. Mit der Zeit hat man mehr Spielanteile bekommen, konnte sich viel von den Erfahrenen abgucken.“ Insbesondere von Tatiana Surkova habe sie viel gelernt. „Mit der Zeit habe ich meinen Platz im Team gefunden, bin irgendwann auch in neue Rollen geschlüpft, habe Verantwortung übernommen und bin jetzt die, die ihr Wissen weitergibt.“ Und: Es sind in all den Jahren Freundschaften entstanden, die für die 34-Jährige etwas ganz Besonderes sind. „Ich bin sehr dankbar dafür, was ich für viele Menschen kennenlernen durfte, die einem richtig ans Herz gewachsen sind und zu denen ich auch in Zukunft noch Kontakt haben werde.“

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29.50 Minuten: 2009 und 2012 hat Julia Renner mit dem VfL Oldenburg den Pokal bereits gewonnen. Daran verschwendet die Torhüterin zum Ende der ersten Halbzeit aber keinen Gedanken. 12:15 liegt der VfL zurück, als sich Karolina Kudlacz-Gloc durch die Oldenburger Defensive und zu Fall gebracht wird. Siebenmeter. Anna Loerper tritt gegen Renner an, aus den Boxen erklingt das Intro von „Eye of the Tiger“. Dann ein Pfiff, Stille. Die VfL-Keeperin macht sich groß, ist aber chancenlos. Der VfL geht mit einem Rückstand von vier Tore in die Halbzeitpause.

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17 Jahre ihrer Bundesliga-Karriere nur für einen Verein zu spielen – das gelingt in der heutigen Zeit kaum noch einem Sportler oder einer Sportlerin. Dass sie ihre gesamte Karriere nur für den VfL spielen wird, damit hatte Julia Renner auch nicht gerechnet, als sie 2005 den TSV Ellerbek verließ, um bei Bundesligist VfL Oldenburg anzuheuern. Seitdem hat sich der Kader über die Jahre verändert. Die einzige Konstante? Das blieb bis heute Julia Renner. „Ich wäre zu einer bestimmten Zeit auch ins Ausland gegangen, um etwas Neues kennenzulernen“, verrät sie: „Es hat sich aber nicht ergeben. Im Nachhinein bin ich schon froh, dass es so gekommen ist. Oldenburg ist dadurch mit der Zeit mein Zuhause geworden. Dafür bin ich unendlich dankbar.“

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38.10: Der VfL ist wieder im Spiel! Nur acht Minuten sind nach Wiederanpfiff gespielt, da sorgt Angie Geschke mit ihrem Tor für den Ausgleich. Seit dem Seitenwechsel steht die Oldenburger Defensive deutlich kompakter – und wenn Bietigheim doch eine Lücke findet, dann ist Julia Renner zur Stelle. So auch jetzt: Nach einem Pass auf die rechte Seite versucht es Angela Malestein von Außen, doch Renner lenkt den Ball um den Pfosten, leitet den Tempogegenstoß ein. Den verwandelt Angie Geschke: Oldenburg führt, die 2513 Zuschauer in der Arena jubeln.

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Als Nachwuchshandballerin saß Julia Renner oft als Zuschauerin in der Kieler Ostsee-Halle und fieberte mit den Handballern des THW mit. „Mein Traum war es damals immer, dass ich in der damaligen Ostsee-Halle spiele oder eben so weit komme, dass ich auch vor so vielen Zuschauern spiele“, sagt Renner. Als Kind hat sie dabei eine ganze Reihe an Sportarten ausprobiert: Schwimmen, Reiten, Judo oder Turnen zum Beispiel – doch es war besonders der Mannschaftssport, der sie damals begeisterte. Mit Freundinnen und Klassenkameradinnen bildete sie eine Handball-Mannschaft, stand von Beginn an im Tor. „Ich fand es damals irgendwie unheimlich cool im Tor zu stehen“, schmunzelt Renner: „Ich war dazu schon früh verhältnismäßig groß und hatte so ganz gute Chancen, an den Ball zu kommen.“

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52.45 Minuten: 25:24 – der VfL Oldenburg führt weiterhin, als die Schiedsrichterinnen auf Siebenmeter für Bietigheim entscheiden. Julia Renner blickt ihrer Gegenüber Angela Malestein tief in die Augen, täuscht mit dem linken Bein an. Nur einen Sekundenbruchteil später fährt sie das Bein erneut aus und wehrt den Ball. Die Halle jubelt, Renner ballt die Fäuste, klatscht an der Bank mit den Co-Trainern Andreas Lampe und Maike Balthazar ab. Der VfL bleibt in Führung. Noch sieben Minuten.

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Maike Balthazar ist es zu verdanken, dass Julia Renners Weg aus ihrer Heimat Schleswig-Holstein nach Oldenburg führt. Balthazar ist damals Jugendnationaltrainerin. „Ich habe nach einer Perspektive gesucht, mir alles angeschaut und dann unterschrieben“, erzählt Julia Renner. Es beginnt eine aufregende Zeit für die damals noch 17-Jährige. „Es war für mich alles ganz neu und spannend, wir haben viel mehr trainiert, als ich es vorher kannte.“ Dazu muss sie sich, weg von ihrer Familie, in einer WG einleben. Auch wenn das Nachwuchstalent bereits im ersten Jahr zum Bundesligakader gehört, die meiste Einsatzzeit hat sie in der zweiten Mannschaft, sammelt Spielpraxis. Renner: „Hier konnte ich lockerer aufspielen.“

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54.50 Minuten: Oldenburg kann den knappen Vorsprung bisher verteidigen, als über die rechte Außenbahn der nächste Angriff auf das Tor von Julia Renner zurollt. Angela Malestein setzt zum Sprung an. Die VfL-Keeperin überlegt keine Sekunde, kommt Schritt um Schritt auf die Bietigheimerin zu. Sie verkürzt den Winkel, fährt ihr rechtes Bein aus, kommt an den Ball. Dieser rollt langsam in Richtung Torlinie. Julia Renner reagiert geistesgegenwärtig, hechtet dem Ball hinterher, streckt sich. Sie hat ihn – Zentimeter vor der Torlinie. Die Oldenburger Führung hat weiter Bestand. Und die Uhr tickt. Nur noch fünf Minuten.

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Was wird da wohl noch kommen? Das wusste im Pokal-Finale von Stuttgart in den letzten fünf Minuten niemand so genau. Vielmehr galt es, die Konzentration bis zum Ende hochzuhalten. So ähnlich will es auch Julia Renner in den letzten Spielen ihrer Bundesligakarriere angehen. „Es wird für mich erst eine ganz große Veränderung werden, wenn es soweit ist“, will sie sich mit dem Abschied noch nicht allzu sehr beschäftigen. Nur so viel: „Ich habe mir vorgenommen, alles zu genießen.“ Und dann wären da noch die sportlichen Ziele, die die 1,83 Meter große Torhüterin hat: „Ich möchte unbedingt noch einmal ins Final Four und schauen, was da für uns möglich ist. Und natürlich ist es mein Ziel in dieser Saison noch möglichst viele Spiele zu gewinnen.“

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59.30 Minuten: Die Fans spüren: Hier liegt eine Pokalsensation in der Luft. Nach dem 29:27 durch Angie Geschke gelingt Angela Malestein mit einem Dreher der schnelle Anschlusstreffer. Julia Renner holt den Ball aus dem Netz, wirft ihn in Richtung Mittelkreis. Zum letzten Mal in diesem Final4. Noch 20 Sekunden.

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Wäre die Bundesliga-Karriere von Julia Renner ein Spiel, dann würde der Zeiger der Spieluhr etwa diese 20 Sekunden vor dem Ende stehen. Doch auch, wenn die Schlusssirene im letzten Spiel ertönen wird, der Handballsport wird immer einen Platz im Leben von Julia Renner einnehmen. „Ich denke, ich werde beim VfL etwas finden, das ich machen kann“, sagt sie. Eine Zukunft als Torwarttrainerin im Jugendbereich etwa, um den Nachwuchs in Oldenburg zu fördern. „Da ist aber noch nichts besprochen.“ Auch die Heimspiele werden einen festen Platz in ihrem Terminkalender haben. „Wenn ich dem Team irgendwie weiterhelfen kann, dann werde ich das machen“, sagt sie.

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60.00 Minuten: Die Schlusssirene dröhnt in der Stuttgarter Porsche Arena. Die Spielerinnen reißen die Arme in Richtung Hallendecke, die Auswechselbank stürmt auf das Spielfeld. Das gesamte Team jubelt auf dem Spielfeld, springt auf und ab. Wirklich glauben will es zu diesem Zeitpunkt niemand. Doch es ist geschafft: Julia Renner und der VfL Oldenburg sind Pokalsieger.

 

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Es ist eine große Party, die der VfL Oldenburg nach diesem Pokalsieg feiert. Und es wird in diesem Jahr wieder eine geben, ganz egal wie die Saison endet – eine für das „Oldenburger Urgestein“, wie Andreas Lampe, Geschäftsführer des VfL Oldenburg, Julia Renner bezeichnet. „Sie hat eine riesige Karriere in Oldenburg hingelegt“, sagt er, „hat Höhen und Tiefen mitgemacht. Für uns ist es natürlich schade, aber sie hat es sich verdient, ihr Karriereende zu genießen.“ Über all die Jahre habe „Julchen“ einen kleinen Legendenstatus an der Hunte erlangt. „Sie ist in den letzten Jahren als Kapitänin immer vorangegangen, hat so viele gute Spiele mit wichtigen Paraden bestritten und ist für Nele Reese eine wichtige Partnerin gewesen“, so Lampe. „Wir werden noch einmal versuchen, ihr eine tolle Rückrunde zu bieten. Und nach der Saison werden wir eine Party feiern, um diese außergewöhnliche Karriere zu würdigen.“

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„Wir kommen zur Auszeichnung der besten Torhüterin des Final4 2018“, dröhnt es durch die Lautsprecher der Stuttgarter Porsche Arena: „Die Jury hat gewählt: Die Nummer 1 des VfL Oldenburg – Julia Renner.“ In diesem Moment ist der Spot, sind alle Augen noch einmal ganz allein auf Julia Renner gerichtet. Freudestrahlend umarmt sie Jogi Bitter, der ihr die Auszeichnung übergibt. Nur wenige Augenblicke später baumelt die Goldmedaille um ihren Hals. Und dann, dann hält sie den Siegerpokal in ihren Händen. Das, was vorher wohl niemand für möglich gehalten hat, ist wahr geworden.

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Das Pokalfinale 2018 – es ist das Spiel, das Julia Renner am besten in Erinnerung geblieben ist. Ihre zwölf Paraden ebnen dem VfL am 20. Mai 2018 den Weg zum vierten Pokaltriumph der Vereinsgeschichte. „Kaum jemand hat uns diesen Titel zugetraut“, sagt Julia Renner rückblickend: „Wir haben als Team alle überrascht und so in der Mannschaft für ein unglaubliches Gefühl gesorgt.“ Es sind die Augenblicke wie der Pokalsieg 2018, die für Julia Renner ihre 17-jährige Bundesliga-Handballkarriere unbezahlbar gemacht haben: „Für solche Momente spielt man Handball.“