Teil 1:

Nach 40 Stunden Busfahrt hat die Sensation eine kleine Pause gemacht

  • Rückblick 1972
  • Jürgen Carstens und Robert Schumann – zwei große Säulen des Erfolges
  • Europa kommt nach Oldenburg
  • Peter Görgen hat einen tragischen Dienstunfall und kann nie wieder Handball spielen
  • Silke Combecher verpasst mit der weiblichen B-Jugend um Haaresbreite die Deutsche Meisterschaft
  • Anmerkungen
  • Zugabe – Bilder quer durch den Garten

 

Bevor es nun richtig losgeht, gibt es schon die ersten Korrekturen zu vermelden. Im Prolog ist ein Foto aus dem Lamberti-Eck mit der Jahreszahl 1981 datiert worden. Das stimmt natürlich nicht. Im Archiv von Robert Schumann habe ich ein zweites Bild gefunden, dass mit einem Datum versehen worden ist. Dort steht 15.01.1984 OSLO.  Diese von einem Fan gezeichneten Portraits sind also am Anfang des Jahres im Lamberti-Eck übergeben worden. Die ganze Geschichte zum überragenden Europapokalsaison 1983/1984 folgt im Laufe der nächsten Teile.

Wäre es nicht wunderbar, wenn wir diese von Meisterhand gezeichneten Bilder im Oktober zum Jubiläum ausstellen könnten. Also, Mike, Rita, Maria und Inge, wo sind Eure Exemplare? Das gilt natürlich auch für alle anderen Protagonistinnen. Roberts Portrait hing übrigens bis zum gestrigen Tag bei Helga im Mittelweg und wurde nur im Rahmen des Kopierens von der Wand genommen.

Wie oft steht der Zufall Pate für eine Entwicklung in der Gesellschaft oder auch im alltäglichen Sport. Ein Ball überschreitet wie 1966 in Wembley nach dem Abprallen von der Latte die Torlinie nicht, und trotzdem wertet der Schiedsrichter diesen Schuss als Tor. Uwe Seeler, der in der vorletzten Woche verstorben ist, wäre vielleicht Weltmeister geworden. Millimeter entscheiden manchmal über Sieg oder Niederlage. Eine wichtige Spielerin muss Minuten vor dem absoluten Höhepunkt ihrer Karriere mit einer Muskelverletzung kurz vor der Partie passen. Vielleicht hätte eine unverletzte Alexandra Popp den entscheidenden Treffer zum Gewinn der Europameisterschaft erzielt und wäre für die nächsten Jahrzehnte genauso berühmt wie der verstorbene Uwe Seeler.

Das Pendel schlägt aus und wir können erst im Nachhinein entscheiden oder bewerten, ob wir an einem bestimmten Punkt in der Geschichte wirklich Glück oder Pech hatten. Es gibt immer entscheidende Augenblicke im Leben, manchmal sind es Wendepunkt, die in eine positive Richtung zeigen, manchmal aber auch sehr bittere Schicksalsschläge, die unumkehrbar sind. Und genau von diesen Momenten handelt dieser erste Teil.  

Was wäre gewesen, wenn das Land Niedersachsen 1972 in Oldenburg im Stadtteil Bloherfelde keinen weiteren Standort für die Bereitschaftspolizei geplant und gebaut hätte. Wo hätten die vielen jungen Polizisten dann Handball gespielt und Mannschaften erfolgreich trainiert? In welchen Städten wären von Jürgen Carstens und Robert Schumann Handball-Leuchttürme aufgebaut worden? Oder wären sie vielleicht gescheitert, weil sie keine Mitstreiter und Mitstreiterinnen gefunden hätten, also nicht auf einen solchen fruchtbaren Boden wie den vom VfL Oldenburg gestoßen wären. Natürlich ist das alle Spekulation. Aber eines ist ganz klar. Mit diesen beiden Ausnahmespielern bekommt unsere Handballabteilung zwei große Weichensteller auf dem Silbertablett serviert, die in den 1980er Jahren im weiblichen und im männlichen Bereich für viel Furore sorgen. 

Eberhard Erlebach, der in der Chronik vor vier Jahrzehnten die Jahre 1972 bis 1982 thematisiert und charakterisiert hat, schreibt über diese Zeit:

Die Jahr 1971/72 waren für die weitere Entwicklung des VfL-Handballs bestimmt. Dies aus zwei Gründen:

Zum einen war die Hallensituation in Oldenburg alles andere als rosig, kein Verein konnte eine (nach heutigen Maßstäben) spielgerechte Halle vorweisen, sodass der VfL mit seiner eigenen natürlicher Anziehungspunkt war.

Zum anderen: Die Verpflichtung von Robert Schumann. Und wer Robert Schumann kennt, weiß, dass er von Anfang an natürlich nicht allein als Trainer, sondern dass er mit ungeheurer Energie das gesamte Umfeld änderte. Dazu gehörte die Einführung modernster Trainingsmethoden schon von Jugend an, wie überhaupt er im Zusammenwirken mit seiner Frau Helga es war, der bei den Jüngsten („Minis“) die handballerischen Grundlagen schuf. Dass Robert Schumann sofort als Spieler einstieg und sich in seinem Gefolge andere gute Spieler dem VfL anschlossen, sei am Rande vermerkt. 

Wer noch einmal erfahren möchte, warum Robert Schumann erst nach seiner Frau Helga in die Handballabteilung eingetreten ist, kann gerne den Artikel aus der NWZ vom 18. Februar 2017 lesen.

Jürgen Carstens spielte erst unter Robert Schumann als Trainer in der 1. Herrenmannschaft und wurde dann Spielertrainer dieser Mannschaft. Genau in dem Moment, als Robert Schumann den Chefposten der 1. Damenmannschaft übernommen hatte.

POLIZEIAUSWAHL mit den Verantwortlichen Robert Schumann und Eberhard Erlebach sowie Jürgen Carstens (Nr. 6) – Anfang 1980er Jahre

Zu diesem Foto könnten viele Geschichten erzählt werden. Mit der Nr. 11 ist links im Tor der Rechtsaußen Rainer Schöndorf zu erkennen. Heute, gute 40 Jahre später ist er Chef von Angie Geschke im Polizeirevier Varel. Auch Jens Kanzog (Nr. 1) arbeitet dort auf der Wache. Klaus Wülbers (Nr. 12) trainierte Mitte der 1970er Jahre die 1. Frauenmannschaft und trug mit Peter Voß (Nr. 15) beim Pokalsieg der Frauen 1981 Robert Schumann auf den Schultern durch die Brandsweghalle. Dieter Herglotz (Nr. 4) glänzte wie die anderen beschriebenen Kollegen jahrelang auf der Linksaußenposition in der 1. Herrenmannschaft. Viele der benannten Spieler wurden 1984 Meister der Oberliga Nordsee und stiegen mit dem überragenden Spielertrainer Jürgen Carstens in die Regionalliga auf.

Über zwei Jahrzehnte war er der Dreh- und Angelpunkt im ambitionierten Männerbereich der Handballabteilung. Der Aufstieg in den Bundesligabereich sollte aber nie glücken. Als sich Mitte der 1990er Jahre eine Möglichkeit ergab, als Trainer dieses Ziel erreichen zu können, suchte er sein neues Glück beim TV Grambke in Bremen und konnte dort in der 2. Bundesliga Erfolge feiern. Anschließend erlebte er mit dem Wilhelmshavener HV nicht nur den Aufstieg in die erste Bundesliga, sondern auch Spiele gegen den THW Kiel, wohlgemerkt Punkt- und keine Vorbereitungsspiele. Damit krönte er seine lange Trainertätigkeit, die bei uns begonnen hatte.

Doch jetzt sind wir endlich im Januar 1982 angekommen. Es ist erst der dritte Tag des neuen Jahres und schon gibt es den ersten handballerischen Leckerbissen in der Brandweghalle. Das erste Europapokalspiel des VfL Oldenburg steht auf dem Programm. Alle sind gespannt, wie sich unsere Frauen gegen ein Team aus dem sogenannten Ostblock schlagen würden. Alle Spielerinnen waren hochmotiviert und wollten besonders im Hinspiel als Deutscher Pokalsieger die Oldenburger Farben europaweit engagiert und würdig vertreten. 

Am Ende steht es 13:15 aus Sicht des VfL. Maike Schmidt, die schon mit Rita, Conny und Dini 1978Deutscher Meister in der A-Jugend geworden ist und ein halbes Jahr vorher den Deutschen Pokal gewonnen hat, bringt in einem NWZ- Interview am 04. Januar 1982 alles auf den Punkt.

In diesem Moment konnte sich Mike noch nicht vorstellen, dass die 40-stündige Busfahrt (20 Stunden hin und 20 Stunden wieder zurück) vielleicht das kleinste Übel war. Denn das Rückspiel entwickelte sich zu einer wahren Horrorveranstaltung, die Stephen King nicht hätte besser orchestrieren können. Mit 10:26 gingen die Schützlinge von Robert Schumann und Werner Bokelmann in der tschecheslowakischen Stadt Bratislava unter. Aber unterm Strich wurde bei dieser Unternehmung viel gelernt. Zwei Jahre später gewannen die VfL-Frauen die nächsten beiden Europapokalspiele im IHF-Pokal in der ersten Runde mit 53:3 und 43:4 und zogen am Ende der Saison 1984 ins Endspiel ein. Aber das spielt jetzt noch keine Rolle.

Denn kurz nach dieser kleinen sportlichen Tragödie schlug das Schicksal im realen Leben der Handballerinnen und Handballer gnadenlos zu. Peter Görgen, der 1977 als junger Polizist sich der 1. Herrenmannschaft angeschlossen hatte, verunglückte bei einem Dienstunfall so schwer, dass nicht nur seine berufliche Zukunft mit einem Mal aus den Fugen gerissen wurde. Eine Woche vorher hatte er noch für sein Team 4 Tore geworfen.

Der Handball und die Freude am Sport rückten auf einmal in den Hintergrund. Millimeter und Bruchteile von Sekunden entschieden wieder über Leben und Tod, die Frage nach dem WARUM kreiste in den Köpfen der Familie, von vielen Freund:innen, Kolleg:innen und natürlich in denen seiner Mitspielern.

BRANDSWGHALLE 1981 – Peter Görgen passt aus zentraler Rückraumposition zu Ludger Emke an den Kreis.

Den Kontakt zum professionellen Handballsport hat Peter durch seine schwere Verletzung aber nie verloren. Im administrativen Bereich wurde er schnell wieder zu einer unersetzlichen Größe. Als Geschäftsführer der Bundesliga GmbH sorgte er fast zwei Jahrzehnte dafür, dass sich die Zahlen nie in den roten Bereich absetzten. Im operativen Geschäft zog er die Fäden und war der ruhende Pol besonders in den kritischen Phasen in den 1990er Jahren, als die 1. Damen zweimal die Oberklasse im Deutschen Frauenhandball für insgesamt 4 Jahre verlassen mussten (1993-1996 und 1997-1998). Die Pokalsiege 2009, 2012 und 2018 wurden auch alle unter seiner Regie gewonnen.

VfL-Halle Rebenstraße – Rita Forst und Peter Görgen beim 16. Wunderhornturnier im August 2001

Es gab nach dem tragischen Unfall von Peter Görgen diverse Benefizveranstaltungen, die im Nachhinein wieder einmal zeigen, dass sich der Verein, wenn es irgendwie und irgendwo Probleme gab, solidarisch gezeigt hat. Der Spruch VfL – Mehr als ein Verein, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht existierte, spielte aber auch schon damals ideell eine tragende Rolle.

Es gibt diverse Fotos, die nicht datiert sind. Hier muss immer genau geschaut werden, wer wann wo gespielt hat, um herauszubekommen, zu welchem Zeitpunkt die Aufnahme gemacht worden ist. Das nächste Foto vom Bundesligateam und einer Herrenmannschaft kann nicht beim Benefizspiel für Peter Görgen aufgenommen worden sein, da sich auf diesem Birgit Witte befindet, die erst in der darauffolgenden Saison auf Linksaußen für viel Wirbel sorgen wird. Aber sonst hätte es gut passen können.

Zum Schluss des 1. Teils wird noch der Mensch auf die große Bühne gehoben, der wie ein roter Faden durch die letzten 40 Jahre VfL-Handballgeschichte führen wird. Silke Combecher hat am Ende des Jahres 1980 zum ersten Mal in der heutigen Robert-Schumann-Halle an der Rebenstraße unter dem Namensgeber der Halle trainiert. Mit ihrer Familie kam sie als 14-Jährige aus Hamburg zum VfL und fühlte sich vom ersten Moment an sehr geborgen. Spätestens seit Mai 1981 schlug ihr Herz in Bezug auf den Handballsport im absoluten Ausnahmezustand, also im dunkelroten Bereich. Denn auch sie war Zeugin von der wahnsinnigen Pokalschlacht im Rückspiel gegen Holstein Kiel.

Wer noch einmal miterleben möchte, wie die erste Bundesliga-Saison 1980-1981 verlaufen ist, kann diese in einer etwas längeren Geschichte in drei Teilen nachlesen. Rita Forst, die diese Zeit aktiv miterlebt hat, lag zuhause auf ihrer Liege im Garten und erlebte wie in einem Traum diese phantastischen Spiele noch einmal. So oder so ähnliche schilderte sich dieses nach der Lektüre

Doch zurück zu Silke Prante, geborene Combecher. Im Juni 1982 stand sie mit ihrer B-Jugend-Mannschaft zum ersten Mal im Fokus der Öffentlichkeit. Immer sportlich fair, sehr engagiert und bescheiden. Diese Eigenschaften hat sie bis zum heutigen Tag nach außen hin – besonders als Vorbild für die Jugend – immer wieder in diversen Bereichen gezeigt. Es reichte in diesem Jahr aber nur zur Deutschen Vizemeisterschaft. Sie nahm es mit Gelassenheit und freute sich auf die kommenden Jahre, die noch vor ihr lagen.  

Auf ihrem Weg zur Deutschen Meisterschaft 1984 und zu allen weiteren Höhepunkten werden wir sie und viele andere Persönlichkeiten in den nächsten Wochen begleiten…

BRANDSWEGHALLE: Nach 1978 feierte die weibliche Jugend A 1984 die zweite Deutschen Meisterschaft. Zweieinhalb Stunden vorher reichte es für die weibliche B-Jugend nur zur Deutschen Vizemeisterschaft.

So, liebe Leserinnen und Leser, Freundinnen und Freunde vom VfL. Das war es fast mit dem ersten Teil. Er hat doch etwas länger gedauert als gedacht. Es gibt so viele Geschichten zu erzählen, Bilder zu kommentieren und Gespräche zu führen. Die längsten habe ich diese Woche geführt mit Silke Prante, Peter Görgen und mit Werner Bokelmann. Eddie Janßen hat sich bei mir gemeldet, der Vater von Katja Seggelke und auch Uwe Korthals. Ich spüre in all diesen Begegnungen ein Feuer, dass irgendwie immer weiter brennt und niemals erlischt. Das ist unsere gemeinsame Vergangenheit, die ein sehr langes Band um uns alle gewickelt hat und uns nicht los lässt…

Vielleicht ist nicht für alle immer ganz klar, wo wir uns gerade befinden. Es gibt in der Geschichte, die erzählt wird, immer Brüche und Sprünge. Nicht alle kennen alle beteiligten Menschen. Ich hoffe aber, den Geist und die Seele unserer gemeinsamen DNA beschreiben und charakterisieren zu können. Wenn für Euch zu sehr in der Tiefe gebohrt wird, so meldet Euch bei mir. Sonst natürlich auch. Wünsche und Anregungen sind herzlich willkommen!

matthias.blum@gmx.de oder 0172-4317181

 
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